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Makroökonomische Implikationen der KI-Revolution: Liegt der Markt richtig?

John Butler, Macro Strategist
2024-11-30
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Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind diejenigen des Autor bzw. der Autorin zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Dokuments. Andere Teams können andere Ansichten vertreten und andere Anlageentscheidungen treffen. Der Wert einer Anlage kann gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Investition steigen oder sinken. Von externen Anbietern stammende Daten werden zwar als verlässlich erachtet, jedoch gibt es keine Garantie für ihre Richtigkeit. Nur für professionelle, institutionelle oder zugelassene Anleger.

Aus meiner Sicht könnten Fortschritte im Bereich künstliche Intelligenz (KI) das makroökonomische Umfeld maßgeblich verändern und sowohl das Trendwachstum als auch die Erwartungen bezüglich der langfristigen Realzinsen erhöhen – in welchem Maße und wann ist dabei aber weitaus weniger klar. Im Folgenden stelle ich einen ersten Rahmen vor, um diese Fragen im Kontext der Deglobalisierung und des demografischen Wandels zu beantworten.

Wie könnte KI das gesamtwirtschaftliche Umfeld verändern?

Generative KI-Technologien versprechen menschenähnliche Resultate, mit einer hohen Benutzerfreundlichkeit dank natürlicher Sprache und einem breiten Spektrum möglicher Anwendungen.

Wird sie erfolgreich implementiert, könnte die KI-gesteuerte Automatisierung das Produktivitätswachstum über Effizienzverbesserungen und eine Freisetzung von Ressourcen für produktivere Aufgaben steigern. Das wäre eine erfreuliche Entwicklung in einer Welt, in der eines der vorherrschendsten Marktthemen im letzten Jahrzehnt die Angst vor einer langfristigen Stagnation war, bei der Trendwachstum und r* (der Realzins, wenn Volkswirtschaften ihr volles Potenzial ausschöpfen) derart niedrig sind, dass die Zinssätze nicht weit genug sinken können, um die Investitionstätigkeit anzukurbeln. 

Von welcher Tragweite könnten die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen sein?

Der Mangel an Daten macht es unglaublich schwer, die vermeintlichen makroökonomischen Auswirkungen der künstlichen Intelligenz vorherzusagen. Einige wissenschaftliche Studien (Abbildung 1) haben hier trotzdem basierend auf einer Bottom-Up-Aufschlüsselung des Automatisierungspotenzials nach Sektoren und der Geschwindigkeit, mit der technologische Fortschritte in der Vergangenheit übernommen wurden, einen Versuch gewagt. Verständlicherweise liegen die Schätzungen für die potenzielle Produktivitätssteigerung innerhalb einer großen Bandbreite und basieren auf Annahmen bezüglich des Grads der Automatisierung von Arbeitsabläufen, der damit verbundenen strukturellen Verdrängung von Arbeitsplätzen und dem zeitlichen Rahmen der Anpassung.

Kurz gefasst: Diese Studien kamen zu dem Ergebnis, dass sich das Produktivitätswachstum um 0,5 bis 7,0 Prozent steigern ließe, was natürlich sehr unterschiedliche Auswirkungen hätte. Wenn wir den Durchschnitt der sieben Studien betrachten, liegt die geschätzte Produktivitätssteigerung bei rund 2,5 Prozent, während das potenzielle Trendwachstum – das sich aus dem Anteil des Faktors Arbeit an der Produktion ergibt – um 0,1 bis 2,0 Prozent höher ausfallen könnte, mit einem durchschnittlichen Wert von 1,0 Prozent. Das ist eine sehr hohe Schätzung.

Abbildung 1
Attraktive Renditen bescheren Anlegern positives Gesamtertragspotenzial

Was bedeutet das für die Anleihenrenditen?

Seit der globalen Finanzkrise ging es bei den realen Anleiherenditen steil bergab, was primär zwei Triebkräften zuzuschreiben war:

  • Einem deutlichen Rückgang der Risikoprämien, die ab 2008 von durchschnittlich +100 bis +200 Basispunkten (Bp.) für einen Großteil des folgenden Zeitraums auf -100 bis 0 Bp. zurückgingen. 
  • Deutlich geringeren Schätzungen von r* – von 200 Bp. vor dem Jahr 2008 auf eine Spanne von -100 bis +100 Bp. danach. 

R* korreliert im Verlauf der Zeit stark mit dem Trend des Produktivitäts- und des realen BIP-Wachstums (Abbildung 2). Es ist daher wohl kaum überraschend, dass die rückläufigen Schätzungen für r* mit einem starken Produktivitätsrückgang infolge der globalen Finanzkrise zusammenfielen. In Anlegerkreisen wurde die Meinung vertreten, dass r* in den Industrieländern wegen der verhaltenen Angebots- und Nachfragedynamik auf null gefallen sei, angetrieben durch Faktoren wie etwa mangelnde Innovation, alternde Bevölkerungen, sinkende Bildungsstandards und eine ungleiche Einkommensverteilung. In der Folge war es den Zentralbanken kaum möglich, ihre Zinsen weit genug zu senken, um die Konsumlaune und die Investitionstätigkeit anzukurbeln, was Diskussionen über eine Abschaffung der Zinsuntergrenze und in einigen Fällen über Zinssenkungen in den negativen Bereich anstieß.

Abbildung 2
Attraktive Renditen bescheren Anlegern positives Gesamtertragspotenzial

Wenn es mittels KI gelingen würde, den Abwärtstrend beim Produktivitätswachstum umzukehren, könnte das Zinsniveau, das in den letzten 15 Jahren ausgereicht hätte, um die Wirtschaft zu verlangsamen, hierzu künftig nicht mehr imstande sein. Höhere Zinssätze gehen unter Umständen mit erhöhten Bewertungen bei risikoreichen Vermögenswerten einher, da diese Zinsanstiege in erster Linie höhere Schätzungen für die langfristige Kapitalrendite widerspiegeln. Tatsächlich gibt es zaghafte Anzeichen dafür, dass die Märkte womöglich bereits eine gewisse Erwartung einpreisen, dass KI die Produktivität und das Trendwachstum steigern wird.

Wie sieht die Kehrseite der Medaille aus?

Es herrscht nach wie vor wenig Klarheit darüber, wie schnell der Wandel vonstatten gehen wird, wie weit die Automatisierung gehen kann und wie viele Arbeitsplätze voraussichtlich verdrängt werden. Meiner Ansicht nach sind die beiden wichtigsten Fragen, die noch zu beantworten sind:

  1. Wo bleiben die Investitionen?
    Ein höheres Produktivitätswachstum geht für gewöhnlich mit höheren Kapitalausgaben einher. Seit die Weltwirtschaft infolge der pandemiebedingten Lockdowns wieder hochgefahren wurde, sorgten die globalen Investitionsausgaben unter dem Strich aber für Enttäuschung, insbesondere außerhalb der USA, wobei der Umfang der Investitionsvorhaben weltweit neuerdings sogar abwärts tendiert.
  2. Wie wird die Politik reagieren?
    KI dürfte in großem Stil Arbeitsplätze verdrängen – nach Schätzungen eines Berichts von Goldman Sachs könnten über einen Zeitraum von zehn Jahren rund 300 Millionen Vollzeitstellen weltweit gestrichen werden. 1 Aus historischer Sicht ließen Innovationen stets neue Sektoren und neue Arbeitsplätze entstehen. So gab es einen wesentlichen Teil der heutigen Arbeitsplätze vor 50 Jahren noch nicht. Dennoch stellt die damit einhergehende Unsicherheit Regierungen vor enorme Herausforderungen. Aus makroökonomischer Sicht wäre die richtige Reaktion, die Regierungspolitik in erster Linie auf die Umschulung von Arbeitnehmern zu konzentrieren, damit sich diese rasch anpassen und produktiveren Aufgaben zuwenden können. Wenn man jedoch das Potenzial für eine heftige politische Gegenreaktion bedenkt, dürften die Regierungen ihren Fokus wohl primär darauf richten, ihre Sicherheitsnetze zu verbessern und die mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Kosten zu senken, was den positiven Einfluss auf r* schmälern und eine wesentlich höhere Inflation herbeiführen könnte.

Wie sieht der breitere Kontext aus?

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass KI nicht in Isolation betrachtet werden kann. Denn der Anreiz zur Einführung dieser neuen Technologien wird in gewisser Weise dadurch verstärkt, dass mehrere andere strukturelle Kräfte, vor allem der demografische Wandel und die Deglobalisierung in Ländern mit hohen Einkommen, die Arbeitskosten erhöhen und die Produktivität senken. 

  • Demografische Entwicklung: KI könnte dazu beitragen, die negativen Auswirkungen des zu erwartenden Rückgangs verfügbarer Arbeitskräfte in einkommensstarken Ländern auszugleichen – das Ausmaß, in dem dies geschehen wird, ist bislang aber noch unklar. 
  • Deglobalisierung: Wie unser Research nahelegt, dürfte sich die Deglobalisierung noch intensivieren, was die Produktivität verringern und dem Effekt der künstlichen Intelligenz somit entgegenwirken könnte. Auf der anderen Seite könnte sich der Anreiz zur Einführung von KI durch die Deglobalisierung verstärken, weil diese die Arbeitskraft verteuert. Wird KI erfolgreich eingesetzt, könnte dies die Länder wiederum dazu ermutigen, ihren Deglobalisierungsprozess weiter zu beschleunigen, da sie so weniger auf ausländische Arbeitskräfte und Lieferketten angewiesen sind. Welcher Trend sich letztlich durchsetzen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

Fazit

  • Nach unserem Dafürhalten ist KI eindeutig in der Lage, die gesamtwirtschaftliche Landschaft zu verändern und dem Thema der langfristigen Stagnation entgegenzuwirken, und wir sehen zaghafte Anzeichen, dass die Märkte jüngst damit begonnen haben, dieses Potenzial zu antizipieren. 
  • Doch auch wenn die Märkte gezwungen sind, die Zukunft zu antizipieren und einzupreisen, scheint dies etwas verfrüht, wenn man die bis dato fehlenden Investitionen und die mangelnde Klarheit bezüglich der politischen Reaktion auf die potenzielle Verdrängung von Arbeitsplätzen bedenkt. Dies könnte auf dem Weg zur KI-Umsetzung eine erhöhte Inflation bedeuten. 
  • Darüber hinaus sind auch das Tempo der Umsetzung, das Spektrum der Anwendungen und der Grad der Nutzung wichtige Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt. Zudem ist das Potenzial der künstlichen Intelligenz auch im Kontext der Deglobalisierung und der demografischen Entwicklung zu bewerten, da beide Faktoren das Trendwachstum und die langfristigen Realzinsen begrenzen dürften. 
  • Unter dem Strich denke ich, dass sich die Anleger auf beträchtliche Veränderungen der Zinssätze und der Vermögenspreise einstellen sollten, während die Marktteilnehmer zu beurteilen versuchen, inwieweit KI die Produktivität und das Trendwachstum steigern kann. 

1S. Briggs and D. Kodnani, „The Potential Large Effects of Artificial Intelligence on Economic Growth“, Goldman Sachs, März 2023.

Experte

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John Butler

Macro Strategist

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