Eine Reihe von Schocks und strukturellen Herausforderungen hat dieses Wirtschaftsmodell nun erschüttert:
- Der Handel mit China und dem Rest der Welt bietet angesichts des strukturellen Trends zur Deglobalisierung nicht mehr die gleichen Wachstumschancen;
- der Krieg in der Ukraine hat Deutschlands Zugang zu einer billigen und zuverlässigen Energiequelle durch Russland ein Ende gesetzt; und
- die deutsche Automobilindustrie sieht sich einer strukturellen Bedrohung durch chinesische Hersteller von Elektrofahrzeugen gegenüber.
Diese Schocks beschleunigen aber lediglich den längerfristigen Trend einer Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit. Das exportorientierte Wachstumsmodell Deutschlands hat sich – bei allen positiven Aspekten – als Investitionsbremse erwiesen. Und schon vor der COVID-Pandemie hatte die Regierung damit begonnen, viele der deutschen Arbeitsmarktreformen wieder rückgängig zu machen. Die Hartz IV-Reformen der Regierung Schröder wurden durch das „Bürgergeld“ abgelöst, mit dem das Arbeitslosengeld und die Renten erhöht wurden. Hinzu kamen kräftige Erhöhungen des nationalen Mindestlohns.
Die aktuelle Krise wird jedoch nicht mit der gleichen politischen Entschlossenheit angegangen, wie wir sie Anfang der 2000er Jahre erlebt haben. Die politische Fragmentierung und das Erstarken von Parteien am Rande des politischen Spektrums schwächen den Willen und die Fähigkeit der derzeitigen Koalitionsregierung, weitere Reformen auf der Angebotsseite durchzusetzen. Stattdessen richtet sich die Politik zunehmend nach innen und versucht, die Binnennachfrage durch eine strukturell lockere Fiskalpolitik und eine Erhöhung des Anteils des Arbeitseinkommens am BIP anzukurbeln. Die entscheidende Frage ist, wie der private Sektor auf diese Veränderung reagiert. Im Wesentlichen deuten unsere Analysen darauf hin, dass im Jahr 2024 und darüber hinaus zwei mögliche Entwicklungen mit jeweils sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf den Markt eintreten könnten.
1. Auf dem Weg zur Neuausrichtung
Das positivere und wahrscheinlichste Ergebnis wäre, dass sich Deutschland zu einer sehr viel ausgewogeneren Wirtschaft entwickelt, mit einer geringeren Exportabhängigkeit und einer Verlagerung zu einer fiskalgestützten Binnennachfrage. Diese Veränderung hatte bereits vor der Pandemie eingesetzt, da die Binnennachfrage zu einem wichtigeren Wachstumsmotor wurde.
Wenn Deutschland diesen Weg einschlägt, sollte sich die Zusammensetzung der Wirtschaft des Landes dem europäischen Durchschnitt annähern, und die deutsche Wirtschaft wäre nicht länger eine Deflationsquelle. Eine solche Annäherung würde dazu beitragen, die Eurozone zu stärken und die Gefahr starker Unterschiede und entsprechender Spannungen zwischen den Staaten zu verringern. Deutschland würde dann nicht länger eine Quelle angebotsgetriebener Disinflation sein, sondern stärker für nachfragegetriebene Inflation sorgen. Dies würde den Druck auf die Europäische Zentralbank erhöhen, die Zinsen noch länger auf einem hohen Niveau zu halten.
Zudem würde dies eine deutlich langsamere Spareinlagenbildung erwarten lassen, da die Sparquote der privaten Haushalte und der Handelsbilanzüberschuss sinken würden. Eine solche Entwicklung hätte Auswirkungen auf die globalen Märkte – Deutschland würde als wichtige Quelle billigen Kapitals für den Rest der Welt wegfallen. Seit Mitte der 2000er Jahre haben deutsche Anleger ihre Bestände an Auslandsanlagen massiv um EUR 8 Billionen aufgestockt, vor allem durch den Ausbau ihrer Positionen in globalen Rentenwerten. In diesem Neuausrichtungsszenario würde dieser Kapitalfluss versiegen, was erhebliche Auswirkungen auf zahlreiche Rentenmärkte haben könnte. Beispielsweise haben deutsche Anleger ihren Marktanteil an High-Yield- und Investment-Grade-Anleihen aus den USA deutlich gesteigert. Eine Umkehr dieser Kapitalströme würde den Aufwärtstrend bei den Risikoprämien verstärken und zu höheren langfristigen Zinsen beitragen.
2. Deflation und politische Instabilität
In einem negativeren Szenario wird die Veränderung des deutschen Wirtschaftsmodells nur teilweise und nicht vollständig vollzogen. Die derzeit erhöhte Unsicherheit könnte zu verstärkten Sparmaßnahmen im privaten Sektor sorgen, die zusammen mit schwächeren Exporten das Wachstum hemmen und das Risiko einer erneuten Deflation erhöhen könnten. In dieser Hinsicht ist die anhaltende Schwäche des Verbrauchervertrauens beunruhigend, ebenso wie das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Versuche der Regierung, die Schuldenbremse zu umgehen, einschränkt. Das Risiko, dass Deutschland diesen Weg einschlägt, steigt auch durch die wachsende Popularität von Parteien am extrem rechten (AfD) und extrem linken (Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)) Rand des politischen Spektrums. Es ist nicht undenkbar, dass die Regionalwahlen des Jahres 2024 diesen Parteien genügend Einfluss verschaffen, um eine politische Lähmung auf nationaler Ebene herbeizuführen. Zusammen mit strukturell schwächeren Exporten und einem Binnensektor, der sich mit Ausgaben zurückhält, könnte dies zu einer gefährlichen Kombination aus Deflation und politischer Instabilität für Deutschland und Europa führen – zu einer Zeit, in der beide auf politische Stabilität angewiesen sind.
Die Analyse der Wahrscheinlichkeit der möglichen Szenarien
Wir werden auch in Zukunft eine Vielzahl von Entwicklungen im Auge behalten; zu den wichtigsten zählen aber unseres Erachtens die folgenden:
- Reaktion der Verbraucher: Wir beobachten zum Beispiel sehr genau kurzfristige Signale wie Umfragen zur Beschäftigung und zu den Sparabsichten der privaten Haushalte.
- Besseres Verständnis des künftigen finanzpolitischen Kurses: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts konzentrieren wir uns darauf, die finanzpolitischen Auswirkungen für Deutschland und die Eurozone zu verstehen und zu bestimmen, inwieweit die Koalitionsregierung in der Lage sein wird, die finanzpolitische Flexibilität zur Unterstützung der Verteidigungsausgaben, der Bekämpfung des Klimawandels und der Neuausrichtung der Wirtschaft aufrechtzuerhalten.
- Politische Entwicklungen: Zu den kurzfristigen Signalen, die es zu beachten gilt, gehören Umfragen zu den Chancen der extrem rechts- und linksgerichteten Parteien vor den Regionalwahlen 2024, aber auch die Fähigkeit der Regierungskoalition, wieder die politische Initiative zu ergreifen und einen Konsens zu den wichtigsten Herausforderungen zu finden. Längerfristig werden wir auch die beginnenden Diskussionen über die Abschaffung der Schuldenbremse, möglicherweise nach der nächsten Bundestagswahl, aufmerksam verfolgen.