Zudem hat die deflationäre Anpassung in den Peripherieländern, die die Inflation im Euroraum in den letzten zehn Jahren gebremst hatte, inzwischen ein Ende gefunden: Die inländische Inflation ist erstmalig seit 2012 über die Kerninflationsrate gestiegen und dürfte im Laufe der Zeit durch die Ausgaben im Rahmen des NGEU-Konjunkturprogramms weiter angekurbelt werden.
Die Markterwartungen, wie hoch die EZB ihren Leitzins anheben wird, sind inzwischen deutlich gestiegen. Aber wenn wir unseren Wachstums- und unseren Inflationsausblick zusammenführen und eine einfache Taylor-Regel anwenden (diese besagt, dass zur Dämpfung der Inflation der Realzins entsprechend steigen muss), wird für den Euroraum ein Höchstzinssatz von 5% bis 6% erforderlich sein. Eingepreist ist bislang aber ein Höchstsatz von lediglich 3%. Anders formuliert: Ohne diese Zinserhöhungen wäre im nächsten Jahr ein starker Rückgang des BIP um rund 6% erforderlich, um die Inflation wieder auf das Ziel von 2% zu senken. Die Entwicklung wird alles andere als geradlinig verlaufen: Im Gegensatz zur US-Notenbank Fed konzentriert sich die EZB nicht allein auf ihr Inflationsziel. Vielmehr achtet sie auch darauf, eine unkontrollierte Ausweitung der Spreads in den Peripherieländern zu verhindern. Daher ist es gut möglich, dass die EZB Anzeichen einer Stabilisierung abwartet, bevor sie eine weitere Anhebung ihrer Zinsen in Betracht zieht. Aber die fundamentale Entwicklung der Inflation spricht eindeutig für einen wesentlich höheren Höchstsatz zum Ende des Zinserhöhungszyklus.
Anfällige Bereiche
Die EZB dürfte ihre Bilanzsumme im Jahr 2023 schneller abbauen als die Bank of England und die Fed, wenn die Kredite im Rahmen ihrer gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (TLRO) auslaufen und Anfang 2023 die quantitative Straffung einsetzt. In Kombination mit den umfangreichen Emissionsplänen dürfte dies die Laufzeitprämien im kommenden Jahr weiter in die Höhe treiben. An den europäischen Märkten sehen wir zwei Bereiche, die höher verschuldet sind und daher in dieser Hinsicht anfällig erscheinen. Da gibt es zum einen Italien, wo die staatliche Verschuldung inzwischen bei mehr als 150% des BIP liegt. Die neue Regierung hat zwar einen relativ vernünftigen ersten Haushalt vorgelegt, es besteht jedoch das Risiko, dass die Schulden höher als erwartet ausfallen. Die Energiesubventionen wurden bislang nur um ein einziges Quartal verlängert. Sollten die Energiepreise also hoch bleiben, würde die Regierung unter Druck geraten, sie über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten. Der zweite Bereich, der Anlass zur Sorge gibt, betrifft die hohe Verschuldung privater Haushalte in den skandinavischen Ländern. Diese dürfte die Wachstumszyklen in Schweden und Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern bremsen und das Risiko einer drastischen Abwärtskorrektur der Immobilienpreise in beiden Ländern erhöhen. Erste Anzeichen für eine solche Entwicklung lassen sich bereits in Schweden ausmachen. Außerdem impliziert dies die Notwendigkeit einer Abwertung der Währungen, da sich beide Volkswirtschaften weg von einem von der Binnennachfrage getragenen Wachstum entwickeln.
Dem Vereinigten Königreich steht ein steiniger Weg bevor
Die britische Wirtschaft scheint zu Beginn des Jahres 2023 ebenfalls anfällig für weitere Schwierigkeiten. Die Regierung unter Liz Truss war dank ihres „Mini-Budgets“ – eines umfangreichen Haushaltspakets, das schlecht geplant, kommuniziert und umgesetzt wurde – außergewöhnlich kurzlebig. Im Kern hatte der gescheiterte Mini-Haushalt jedoch versucht, zwei strukturelle Probleme anzugehen, mit denen das Vereinigte Königreich schon seit langem zu kämpfen hat: Seit der Finanzkrise 2008 ist praktisch kein Produktivitätswachstum mehr zu verzeichnen, und die Investitionsausgaben sind seit 2016 gleichbleibend oder rückläufig (Abbildung 2).