Wie schätzen Sie die aktuellen Chancen und Risiken ein?
Ich glaube zwar, dass die positiven Gewinnüberraschungen größtenteils hinter uns liegen – hohe Nettozinsmargen sind angesichts niedrigerer Zinsen und des Drucks auf die Banken, ihre Konditionen anzupassen, möglicherweise nicht nachhaltig –, aber eine Kombination aus anhaltend hohen Rentabilitätsniveaus und geringem Bilanzwachstum bedeutet, dass der Sektor weiterhin hohe Free-Cashflow-Renditen erzielen dürfte, was zu Aktionärsrenditen im unteren bis mittleren Zehn-Prozent-Bereich und zu einer Wiederbelebung der M&A-Aktivitäten in diesem Sektor führen sollte. Mit abnehmendem Gewinnwachstum wird der Druck zunehmen, zu konsolidieren oder neue Wachstumstreiber zu „kaufen“. Insbesondere in Italien, Spanien und Mittel- und Osteuropa sehe ich Potenzial für eine inländische Konsolidierung. Angesichts starker regulatorischer Anreize könnten Banken auch versuchen, Versicherungsunternehmen zu übernehmen.
Darüber hinaus hat die Technologie einen tiefgreifenden Einfluss auf die Art und Weise, wie Verbraucher mit Banken und deren Produkten interagieren. Steigende Zinsen haben die Kapitalkosten für Fintechs erhöht, während die Rentabilität traditioneller Banken ihre Fähigkeit, in Technologie zu investieren, erheblich verbessert hat. Die „industrielle Revolution“ der KI wird zweifellos die langfristige Effizienz von Banken verbessern, aber auch das Bewusstsein der Kunden schärfen und die Fähigkeit der Banken verringern, von der Trägheit ihrer Kunden zu profitieren. Dies wird wahrscheinlich Gewinner und Verlierer hervorbringen, und die Fähigkeit, die Managementteams zu identifizieren, die sich am besten anpassen können, wird der Schlüssel zur Erzielung langfristiger Zusatzerträge sein.
Im Hinblick auf mögliche Problemfelder sehe ich das Hauptrisiko für den europäischen Bankensektor im politischen Umfeld, das durch hohe Haushaltsdefizite und eine erhebliche Staatsverschuldung in Europa geprägt ist. In diesem Umfeld steigt das Risiko einer sektoralen Besteuerung und einer „Verdrängung“ der Angebote von Banken, da die Verfügbarkeit von Finanzmitteln für private Investitionen reduziert wird, während die Regierungen versuchen, Haushaltslöcher zu stopfen und Kleinanleger mit Angeboten für Staatsanleihen zu ködern. Darüber hinaus kann die vorherrschende politische Unsicherheit die Bewertungen trotz solider Fundamentaldaten vorübergehend belasten, wie sich jüngst in Frankreich gezeigt hat.
Auch die regulatorischen Rahmenbedingungen beobachte ich sehr genau. Beispielsweise könnten die jüngsten Probleme im Schweizer Bankensektor dort für eine Verschärfung der Regulierungsvorgaben sorgen. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA hat zwar zusätzliche Befugnisse erhalten, steht aber meines Erachtens nun vor der schwierigen Aufgabe sicherzustellen, dass etwaige zusätzliche regulatorische Anforderungen die international tätigen Schweizer Banken nicht gegenüber ihrer globalen Konkurrenz benachteiligen. Im Falle eines Wahlsiegs von Donald Trump könnte dieses Risiko meiner Ansicht nach akuter werden, da eine republikanische US-Regierung wahrscheinlich versuchen würde, den regulatorischen Rahmen für heimische Banken zu lockern.