Langjährige Annahmen werden hinterfragt
Wir sind der Meinung, dass viele der strukturellen Hemmnisse, die die Inflation im Euroraum in den letzten zehn Jahren gebremst haben, inzwischen nachlassen. Der Arbeitsmarkt ist so angespannt wie noch nie seit der Gründung der Eurozone, und die Löhne ziehen allmählich an. Das Kreditwachstum ist wieder auf ein Niveau zurückgekehrt, das wir seit der globalen Finanzkrise nicht mehr gesehen haben. Außerdem zeichnet sich eine grundlegend andere Einstellung zum Einsatz fiskalpolitischer Maßnahmen ab. Dies zeigt sich nicht nur in der Ankündigung eines europäischen Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von EUR 750 Mrd., sondern auch in der deutlichen Kursumkehr in Deutschland, wo öffentliche Mittel nun zur Erhöhung der Ausgaben in Bereichen wie etwa der Verteidigung eingesetzt werden. Auf allgemeinerer Ebene nutzen die Regierungen in ganz Europa die Fiskalpolitik, um die Verbraucher vor den schlimmsten Folgen des Konjunkturabschwungs zu bewahren. Ein Paradebeispiel dafür sind die seit Beginn dieses Jahres europaweit eingeführten Energiepreissubventionen.
Erreicht die Inflation noch in diesem Jahr ihren Höchststand?
Die hartnäckig über den Erwartungen liegenden Inflationswerte betreffen nicht allein die Eurozone. Am Markt dreht sich aber in erster Linie alles um die Frage, wie hoch die Inflation in der Region steigen wird und wann sie ihren Höhepunkt erreicht. Wir gehen davon aus, dass die Gesamtinflation ihren Höchststand im September mit knapp über 9% erreichen wird, was dem 4,5-Fachen des von der EZB vorgegebenen Ziels von 2% entsprechen würde. Die Kerninflation könnte unterdessen auf 4,5% klettern. Für beide Prognosen deuten die Risiken eher darauf hin, dass die tatsächlichen Werte noch höher ausfallen könnten. Die Einschätzung, dass sich die Inflation inzwischen ihrem Maximalwert genähert haben könnte, wird dadurch gestützt, dass die Preise für einige Rohstoffe wie etwa Gas, Lebensmittel und Metalle gegenüber den hohen Niveaus zu Beginn des Jahres etwas zurückgegangen sind. Aus den vorstehend genannten Gründen gehen wir jedoch davon aus, dass die Inflation im Euroraum volatiler bleiben wird. Außerdem dürfte sie länger als von der Zentralbank erwartet über dem EZB-Ziel von 2% verharren. Abbildung 1 zeigt die Inflationsprognosen der EZB sowie unsere eigenen Prognosen per Ende Juni.