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Wie geht es nach der historischen Zinserhöhung der EZB mit der Eurozone weiter?

Eoin O'Callaghan, Macro Strategist
Marco Giordano, Investment Specialist
2023-10-31
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Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind diejenigen der Autoren zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Dokuments. Andere Teams können andere Ansichten vertreten und andere Anlageentscheidungen treffen. Der Wert eines Investments kann gegenüber dem Zeitpunkt des ursprünglichen Investments steigen oder sinken. Von externen Anbietern stammende Daten werden zwar als verlässlich erachtet, doch gibt es keine Garantie für ihre Richtigkeit. Nur für professionelle, institutionelle oder zugelassene Anleger. 

Im Nachgang der globalen Finanzkrise blieb die Inflation im Euroraum über längere Zeit hinweg niedrig. Die politischen Zügel wurden zu straff gezogen: Die fiskalpolitischen Entscheidungen auf dem Kontinent wurden von Sparmaßnahmen beherrscht, und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) war im Vergleich zu anderen Zentralbanken zu restriktiv. Das Kreditwachstum war nach der Staatsschuldenkrise des Jahres 2012 verhalten, und die daraus resultierende Zunahme notleidender Kredite wurde nur langsam überwunden. Außerdem wurden die Peripherieländer des Euroraums durch die Staatsschuldenkrise gezwungen, zum Wiedererlangen ihrer Wettbewerbsfähigkeit eine Phase starker relativer Disinflation in Kauf zu nehmen. 

Die Märkte haben die Unfähigkeit des Euroraums, Inflation zu erzeugen, lange als gegeben hingenommen. Ähnlich wie im Rest der Welt erweist sich die steigende Inflation derzeit jedoch als weitaus hartnäckiger, als die politischen Entscheidungsträger 2021 und Anfang 2022 noch erwartet hatten. Dies veranlasste die EZB, ihren Leitzins auf ihrer Sitzung am 21. Juli erstmals seit 2011 um 50 Basispunkte anzuheben – und das trotz der gestiegenen Wachstumsrisiken, des Kriegs in der Ukraine und des Scheiterns der italienischen Regierungskoalition. Mit der in der vergangenen Woche beschlossenen Zinserhöhung hat die Einlagenfazilität den negativen Bereich hinter sich gelassen und wieder die Marke von 0,00% erreicht. Der Einlagensatz der EZB ist jedoch noch weit von dem Niveau entfernt, auf dem er sich unserer Einschätzung nach letztendlich einpendeln dürfte. Nachfolgend erörtern wir die wahrscheinlichen nächsten Schritte der EZB sowie die mögliche künftige Entwicklung von Inflation und Wachstum in der Eurozone.

Langjährige Annahmen werden hinterfragt

Wir sind der Meinung, dass viele der strukturellen Hemmnisse, die die Inflation im Euroraum in den letzten zehn Jahren gebremst haben, inzwischen nachlassen. Der Arbeitsmarkt ist so angespannt wie noch nie seit der Gründung der Eurozone, und die Löhne ziehen allmählich an. Das Kreditwachstum ist wieder auf ein Niveau zurückgekehrt, das wir seit der globalen Finanzkrise nicht mehr gesehen haben. Außerdem zeichnet sich eine grundlegend andere Einstellung zum Einsatz fiskalpolitischer Maßnahmen ab. Dies zeigt sich nicht nur in der Ankündigung eines europäischen Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von EUR 750 Mrd., sondern auch in der deutlichen Kursumkehr in Deutschland, wo öffentliche Mittel nun zur Erhöhung der Ausgaben in Bereichen wie etwa der Verteidigung eingesetzt werden. Auf allgemeinerer Ebene nutzen die Regierungen in ganz Europa die Fiskalpolitik, um die Verbraucher vor den schlimmsten Folgen des Konjunkturabschwungs zu bewahren. Ein Paradebeispiel dafür sind die seit Beginn dieses Jahres europaweit eingeführten Energiepreissubventionen. 

Erreicht die Inflation noch in diesem Jahr ihren Höchststand?

Die hartnäckig über den Erwartungen liegenden Inflationswerte betreffen nicht allein die Eurozone. Am Markt dreht sich aber in erster Linie alles um die Frage, wie hoch die Inflation in der Region steigen wird und wann sie ihren Höhepunkt erreicht. Wir gehen davon aus, dass die Gesamtinflation ihren Höchststand im September mit knapp über 9% erreichen wird, was dem 4,5-Fachen des von der EZB vorgegebenen Ziels von 2% entsprechen würde. Die Kerninflation könnte unterdessen auf 4,5% klettern. Für beide Prognosen deuten die Risiken eher darauf hin, dass die tatsächlichen Werte noch höher ausfallen könnten. Die Einschätzung, dass sich die Inflation inzwischen ihrem Maximalwert genähert haben könnte, wird dadurch gestützt, dass die Preise für einige Rohstoffe wie etwa Gas, Lebensmittel und Metalle gegenüber den hohen Niveaus zu Beginn des Jahres etwas zurückgegangen sind. Aus den vorstehend genannten Gründen gehen wir jedoch davon aus, dass die Inflation im Euroraum volatiler bleiben wird. Außerdem dürfte sie länger als von der Zentralbank erwartet über dem EZB-Ziel von 2% verharren.  Abbildung 1 zeigt die Inflationsprognosen der EZB sowie unsere eigenen Prognosen per Ende Juni. 

Abbildung 1
Inflazione - Che cosa accadrà nell'Area Euro dopo lo storico rialzo dei tassi d'interesse della BCE fig1

Starke Konjunkturabschwächung – Rezession in Sicht?

Wir gehen davon aus, dass sich das weltweite Wachstum im kommenden Quartal deutlich verlangsamen wird, was neben einer strafferen Geldpolitik auch einem Rückgang der Konsum- und Investitionsausgaben zuzuschreiben sein dürfte. Allerdings glauben wir, dass sich diese Abschwächung eher als Wachstumspause und nicht als Beginn einer längeren Rezession erweisen wird. Dafür sehen wir drei Hauptgründe:

  1. Eine hohe Zahl offener Stellen dürfte den Konsum stützen und das Lohnwachstum ankurbeln. Wenn gleichzeitig die Gesamtinflation ihren Höchststand erreicht, sollte dadurch das Wachstum der Realeinkommen im späteren Jahresverlauf zunehmen. Die in den letzten beiden Jahren angehäuften Ersparnisse dürften ebenfalls (teilweise) ausgegeben werden, um die Auswirkungen der höheren Preise abzufedern;
  2. die Wirtschaftstätigkeit in China sollte sich verbessern, wenn die Wirtschaft wieder voll anläuft und die fiskalpolitischen Konjunkturmaßnahmen verstärkt werden; und
  3. die Geldpolitik ist weiterhin locker, wobei sich die Realzinsen nach wie vor im deutlich negativen Bereich bewegen.

Zwei zentrale Risiken

1. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine
Das Hauptrisiko für unsere Wachstumsprognose für den Euroraum besteht darin, dass Russland seine Gaslieferungen nach Europa gänzlich einstellen könnte, was einen erheblichen wirtschaftlichen Schock für die Region bedeuten würde. Wir gehen von drei grundlegenden möglichen Szenarien aus: 

  • Eine Rückkehr zu den Liefermengen aus der Zeit vor dem Konflikt – ein aus unserer Sicht zunehmend unwahrscheinliches Szenario. Allerdings dürfte es der Europäischen Union unserer Einschätzung nach mit der Zeit gelingen, alternative Lieferanten zu finden.
  • Eine vollständige Abschaltung, die nach wie vor ein Extremrisiko darstellt, würde den Kurs der EZB in Richtung höherer Zinsen stoppen. Daher beobachten wir die geopolitischen Entwicklungen sehr genau.
  • Anhaltende, aber gedrosselte Lieferungen – Dies ist unser Basisszenario, da es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin aus unserer Sicht ein maximales Druckmittel gegenüber Europa bietet, während die Gaseinnahmen seines Regimes weitgehend erhalten bleiben. 

2. Politische Unsicherheit im Euroraum
Ein weiteres zentrales Risiko ist die zuletzt wieder gestiegene Renditestreuung bei Euro-Staatsanleihen. Insbesondere sind die Renditen italienischer Titel nach dem Scheitern der von Ministerpräsident Mario Draghi geführten Koalitionsregierung in den Fokus gerückt. Auch wenn die nach den vorgezogenen Neuwahlen zu erwartende Mitte-Rechts-Regierung unseres Erachtens kein systemisches Risiko mehr für die EU und den Euroraum darstellt, könnte sie dennoch Reformen bremsen, die Haushaltsdisziplin lockern und eine weitere Integration erschweren. Dies wiederum könnte bedeuten, dass Italien weniger Unterstützung aus dem europäischen Wiederaufbaufonds erhält. Zudem wird hierdurch letztlich der Handlungsspielraum der EZB eingeschränkt, da sich die Ausweitung der Spreads in den Peripherieländern weiter verschärfen könnte.

Der Balanceakt der EZB

Die Entscheidung der EZB, den seit acht Jahren vorherrschenden Negativzinsen ein Ende zu setzen, ist ein klares Zeichen dafür, dass die Zentralbank ihren Rückstand im Kampf um die Eindämmung der galoppierenden Inflation aufholen will. Dementsprechend ist in Kürze mit weiteren Zinserhöhungen zu rechnen. Um ein Höchstmaß an Flexibilität zu gewährleisten, hat die EZB außerdem die Veröffentlichung ihrer zukunftsgerichteten Hinweise (Forward Guidance) mit sofortiger Wirkung eingestellt. Gleichzeitig hat sie mit dem Transmissionsschutzinstrument (Transmission Protection Instrument, TPI) einen neuen Mechanismus eingeführt, der theoretisch unbegrenzte Eingriffe zum Schutz des Zusammenhalts der Eurozone ermöglicht. Während die flexible Reinvestitionspolitik des zur Bekämpfung der Pandemiefolgen eingeführten Wertpapierkaufprogramms die erste Abwehrmaßnahme gegen eine stärkere Renditestreuung darstellt (indem Emissionen mit höheren Spreads gekauft werden) würde das TPI „aktiviert [werden], um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik im Euroraum darstellen“.1 Wie genau das TPI in der Praxis funktionieren würde, bleibt angesichts der potenziell politischen Dimension eines solchen Beschlusses und der mittelfristigen Risiken für die Unabhängigkeit der EZB abzuwarten.

Dennoch könnte das TPI der EZB unserer Meinung nach als wichtiges Sicherheitsnetz dienen, während sie den heiklen Balanceakt wagt, einerseits die Inflation zu dämpfen und andererseits zu verhindern, dass die Spreads zwischen Kern- und Peripherieländern wieder Niveaus erreichen, die frühere existenzielle Krisen der Währungsunion ausgelöst haben.

Fazit

Sofern die russischen Gaslieferungen nicht vollkommen eingestellt werden und die EZB keine politischen Fehler begeht, kann der Euroraum unserer Meinung nach mittelfristig zu stärkerem Wachstum zurückkehren, wenn die Verbraucher den Druck auf die Realeinkommen – wie erwartet – erfolgreich verkraften. Wenn sich unsere Analyse als richtig erweist, wird sich das wirtschaftliche Umfeld erheblich verändern, sodass mit deutlich höheren Zinssätzen, einer gelockerten Fiskalpolitik und einer strukturell höheren und volatileren Inflation zu rechnen sein dürfte. 

Experten

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Eoin O'Callaghan

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