Globaler Konjunkturausblick zur Mitte des Jahres 2023

Unterschiede zwischen Europa und den USA: Die EZB hat noch Handlungsbedarf

Eoin O'Callaghan, Macro Strategist
2024-06-30
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Die jüngsten Finanzmarktturbulenzen in den USA und Anzeichen dafür, dass sich der Straffungszyklus der US-Notenbank seinem Ende nähert, erhöhen das Potenzial für eine zunehmende wirtschaftliche Divergenz zwischen den USA und dem Rest der Welt, wie auch in unserem globalen Makro-Ausblick zur Mitte des Jahres erörtert. Für Europa stellt sich vor allem die Frage, ob und wie lange sich der Konjunkturzyklus und die Geldpolitik der Eurozone von denen der USA abkoppeln werden. 

Die jüngsten Finanzmarktturbulenzen könnten zwar ein Abwärtsrisiko für das europäische Wachstum darstellen, wir rechnen aber für den Rest des Jahres mit einer unterstützenden Politik und soliden Fundamentaldaten für Verbraucher und Unternehmen. In Verbindung mit wachsenden Anzeichen einer starken und sich verfestigenden Inflation deutet dieses Umfeld unseres Erachtens nach wie vor darauf hin, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen möglicherweise über einen längeren Zeitraum anheben muss, als dies derzeit vom Markt erwartet wird. Nachstehend haben wir die wichtigsten Überlegungen zusammengefasst, die dieser Einschätzung zugrunde liegen.

  • Die US-Finanzmarktturbulenzen stellen ein neues Abwärtsrisiko für das Wachstum im Euroraum dar: Bisher scheinen sich die Auswirkungen auf das Konsum- und Geschäftsklima in Europa sowie auf die Finanzierungskosten der europäischen Banken in Grenzen zu halten. Beide Risiken müssen jedoch im Auge behalten werden. Eine Eintrübung dieses Klimas könnte die jüngste Erholung der Wachstumsumfragen ausbremsen, während ein Anstieg der Finanzierungskosten die jüngste Verlangsamung des Wachstums bei der Kreditvergabe an den privaten Sektor, das auf annualisierter Basis von monatlich 6-7% des BIP im vergangenen Sommer auf 1% des BIP im ersten Quartal 2023 zurückgegangen ist, noch verstärken könnte. 
  • Europäische Banken erscheinen vergleichsweise robust: Auch wenn wir das Risiko steigender Finanzmarktturbulenzen im Auge behalten müssen, scheinen die europäischen Banken auf der Passivseite ihrer Bilanzen im Vergleich zu den USA relativ robust zu sein, da die Konkurrenz um Einlagen durch Geldmarktfonds geringer ist. Auf der Aktivseite wurde das Angebot an Staatsanleihen in erster Linie durch die EZB und nicht durch das Bankensystem absorbiert, mit 100% des Nettoemissionsvolumens bei Staatsanleihen in den letzten zehn Jahren. 
  • Das Wachstum im Euroraum wird von einer relativ positiven Geld- und Fiskalpolitik und soliden Fundamentaldaten für Verbraucher und Unternehmen getragen: Die Geldpolitik wird zwar gestrafft, ist aber noch nicht übermäßig restriktiv, während die Fiskalpolitik expansiv bleibt. Die Fundamentaldaten sowohl der Verbraucher als auch der Unternehmen sind bemerkenswert stark. Das nominale Einkommenswachstum bewegt sich auf einem Rekordhoch, und das Wachstum der Realeinkommen dürfte sich unseres Erachtens im Laufe des Jahres beschleunigen, da die Gesamtinflation bis zum Jahresende wieder in Richtung 3% sinken sollte. Auch die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem Rekordtief, während die Rentabilität der Unternehmen in einem außergewöhnlichen Tempo steigt und die Margen den höchsten Stand seit der Zeit vor der globalen Finanzkrise erreicht haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fundamentaldaten – ohne die Abwärtsrisiken außer Acht zu lassen – auf eine stärkere Wachstumsdynamik hindeuten als in der Wachstumsprognose der EZB angenommen. 
  • Die Anzeichen für eine starke und sich zunehmend verfestigende zugrunde liegende Inflation mehren sich: Obwohl die Kerninflation im Euroraum im März mit 5,7% ihren Höchststand erreicht hat, dürfte sie sich nach unserer Prognose aufgrund des anhaltend starken Preisauftriebs bei Kerndienstleistungen und des Rekordwachstums bei den Löhnen sehr viel hartnäckiger auf einem erhöhten Niveau halten als von der EZB erwartet. Unsere Kerninflationsprognose für die Jahre 2023 und 2024 liegt etwa 0,5 bis 0,6 Prozentpunkte über der EZB-Prognose. Trotz der jüngsten Schwäche der Energiepreise sind die dreijährigen Erwartungen für die Verbraucherpreisinflation im März auf fast 3% gestiegen, was ebenfalls auf eine Verfestigung der Inflation hindeutet. Die Stärke der Daten im Vergleich zu den USA ist nach wie vor auffallend: Sowohl die Kerninflation als auch das Lohnwachstum sind höher. Wir gehen nach wie vor davon aus, dass die Inflation im Euroraum in den kommenden Jahren über der US- und der durchschnittlichen G7-Inflation liegen wird. 
  • Die EZB könnte die Zinsen über einen längeren Zeitraum hinweg anheben, was ein Aufwärtsrisiko für die Marktpreise darstellt: Die Entscheidung der EZB, das Tempo der Zinserhöhungen auf ihrer Sitzung im Mai auf 25 Basispunkte zu verlangsamen, zeigt eine gewisse Vorsicht in Bezug auf die jüngste Verlangsamung des Kreditwachstums und die Risiken, die mit den jüngsten Finanzmarktturbulenzen verbunden sind. Dennoch entspricht ihre eigene Prognose einem Höchstsatz (Terminal Rate) von bis zu 4,0%, und es bestehen diesbezüglich unseres Erachtens eher Aufwärtsrisiken. 

Sollten die Finanzmarktturbulenzen zunehmen, hätte dies einen nicht durch die Geldpolitik verursachten Straffungseffekt. Bleibt ein solches Negativszenario jedoch aus, dürfte die EZB die Zinsen bis in den Herbst hinein weiter normalisieren. Auch die Realzinsen signalisieren ein Aufwärtsrisiko für das Ausmaß der erforderlichen geldpolitischen Straffung seitens der EZB. Wie Abbildung 1 zeigt, liegen die Realzinsen aufgrund der mittelfristigen Erwartungen für die Verbraucherpreisinflation nur bei 0,35% und damit deutlich unter dem entsprechenden Niveau von 2% in den USA. 

Alles in allem sollten sich Anleger daher auf anhaltende Unterschiede einstellen, die sich in unterschiedlicher Weise auf die Anlagenpreise im Euroraum und darüber hinaus auswirken dürften. 

Abbildung 1
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Experte

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Eoin O'Callaghan

Macro Strategist