Russland/Ukraine: Nach einem Jahr noch kein Ende in Sicht

Thomas Mucha, Geopolitical Strategist
2024-02-29
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Vor genau einem Jahr begann der tragische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der inzwischen Hunderttausende militärische und zivile Opfer gefordert hat. Diese geopolitische Krise ist nach wie vor ein bedeutendes Markt- und Makroereignis mit ungewissem Ausgang, und die Möglichkeit einer weiteren Eskalation ist sehr real. 

An diesem traurigen Jahrestag können wir meiner Meinung nach damit beginnen, einige der wichtigsten längerfristigen geopolitischen, makroökonomischen und marktbezogenen Entwicklungen zu beurteilen, die Anleger berücksichtigen sollten.

Zum Konflikt selbst:

Fast keiner meiner Ansprechpartner im Bereich der nationalen Sicherheit in Washington, Brüssel oder andernorts in der EU glaubt, dass ein Ende der größten militärischen Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bevorsteht. Im Gegenteil: Es könnte zu weiteren, immer heftigeren Kämpfen kommen.

Das liegt daran, dass sowohl Kiew als auch Moskau Maßnahmen ergreifen, die den Konflikt wahrscheinlich verlängern werden. Auf der ukrainischen Seite erlangt die Selenskyj-Regierung nicht nur immer fortschrittlichere und komplexere Waffen, die sie benötigt, um sowohl defensive als auch offensive Operationen gegen russische Truppen durchzuführen, sondern profitiert auch von verstärkten Ausbildungsmaßnahmen und dem Informationsaustausch mit den NATO-Staaten.

Unterdessen beschleunigt der russische Präsident Wladimir Putin die russische Truppenmobilisierung und versucht gleichzeitig, die Verteidigungs- und Industriebasis des Landes zu stärken. Außerdem haben wir anhaltende Veränderungen in der russischen militärischen Führungsstruktur und in den letzten Wochen auch eine neue Dynamik bei den russischen Offensivoperationen feststellen können. 

Dementsprechend ist die Dynamik auf dem Schlachtfeld – die wohl wichtigste zu beobachtende Variable – im Fluss. Das Spektrum der möglichen Szenarien ist also breit gefächert und reicht von einem militärischen Zusammenbruch auf einer der beiden Seiten bis hin zu einem Regimewechsel.

Was die schlimmsten Szenarien anbelangt, so befindet sich die Krise weiterhin in einer Eskalationsphase. Die Möglichkeit, dass sich die Militäraktion auf NATO-Länder ausweitet oder möglicherweise in einem Einsatz taktischer Atomwaffen mündet, ist zwar gering, aber nicht gleich null.

Zu den geopolitischen Auswirkungen:

Diese militärische Auseinandersetzung ist nach wie vor eine höchst brisante geopolitische Krise, die das globale Sicherheitsumfeld bereits in erheblichem Maße verändert hat.

Erstens hat der Konflikt das transatlantische Bündnis in wirtschaftlicher, politischer und vor allem militärischer Hinsicht gestärkt. Eine so große politische Einigkeit gab es unter der vorherigen US-Regierung nicht. Nun aber wird sie wahrscheinlich über die aktuelle Situation in der Ukraine hinaus fortbestehen. Gleiches gilt für die zunehmende Konzentration der transatlantischen Politik auf die nationale Sicherheit. Wie die Geschichte schon unzählige Male gezeigt hat, sorgen Feindseligkeit und Tragödien dieses Ausmaßes bei politischen Entscheidungsträger für mehr Klarheit.

Zweitens hat der Ausbruch des Konflikts die NATO veranlasst, eine Beitrittseinladung an Finnland und Schweden auszusprechen. Dies spricht für die Tatsache, dass die Kämpfe in der Ukraine ein neues Sicherheitsumfeld in ganz Europa geschaffen haben – eine institutionalisierte Reaktion, die Moskaus militärische Optionen in Europa auf lange Sicht einschränken dürfte.

Der Konflikt in der Ukraine hat auch zu einem starken Anstieg der Verteidigungsausgaben in Europa geführt – und zwar zu einer Zeit, in der Militärs auf der ganzen Welt ihre Streitkräfte modernisieren und neue Technologien, die auf den Schlachtfeldern der Ukraine zum Einsatz kommen, analysieren. Politische Einigkeit in der EU dürfte angesichts der unterschiedlichen innenpolitischen Prioritäten eine dauerhafte Herausforderung bleiben. Ich vermute jedoch, dass die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Umstellung der Militärdoktrinen strukturellen Charakter haben und das Ende des Konflikts überdauern werden.

Und schließlich könnte sich die Situation in der Ukraine auch auf die komplexen Beziehungen Chinas zu den USA und europäischen Ländern auswirken. 

Ich glaube, dass anhaltende Kämpfe in der Ukraine zu einem verschärften Wettbewerb zwischen einigen der globalen Großmächte führen könnten, darunter u.a. die USA, China und Russland. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn Moskau neben militärischen Zielen auch weiterhin Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung und die Infrastruktur vornimmt.

Zudem wird dies wahrscheinlich das politische Narrativ in Washington schärfen, dass sich die Welt in „Demokratien und Autokratien“ aufspaltet. Die daraus resultierende globale geopolitische Instabilität könnte den Deglobalisierungsbestrebungen, die sich zunächst auf strategische Sektoren an der Front des Wettbewerbs zwischen den Großmächten konzentrieren, weiteren Auftrieb geben. Dabei handelt es sich unter anderem um die Bereiche Halbleiter, Biotechnologie, kritische Mineralien, künstliche Intelligenz und Quantentechnologien.

Zu den makroökonomischen und marktspezifischen Implikationen:

Die Krise in der Ukraine dürfte zudem wahrscheinlich mehrere langfristige makroökonomische und investmentspezifische Folgen haben, die meiner Meinung nach den militärischen Konflikt überdauern werden. 

Die Krise in der Ukraine dürfte wahrscheinlich mehrere langfristige makroökonomische und investmentspezifische Folgen haben, die meiner Meinung nach den militärischen Konflikt überdauern werden.

Thomas Mucha
Geopolitischer Strategist

Erstens haben wir im Hinblick auf Sanktionen eine außerordentlich enge Abstimmung zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten erlebt. Diese Entwicklung dürfte sich bis weit in das Jahr 2023 hinein fortsetzen, während sich der Konflikt in die Länge zieht, und sie könnte durchaus ein Vorläufer für alliierte Sanktionen bei zukünftigen geopolitischen Krisen auf der ganzen Welt sein. 

Die Situation in der Ukraine hat natürlich auch die Aufmerksamkeit der politischen Entscheidungsträger – und der Wähler – auf die entscheidende Rolle der Energieversorgung gelenkt, nicht nur in Europa, sondern weltweit. Insbesondere hat sie die Bemühungen verstärkt, die europäischen Volkswirtschaften von russischem Öl und Erdgas unabhängig zu machen. In diesem Zusammenhang ist eine Beschleunigung der Dekarbonisierungsbemühungen der EU in den Fokus gerückt.

Beide Entwicklungen werden wahrscheinlich tiefgreifende Veränderungen in der Art und Weise zur Folge haben, wie Anleger in Zukunft an das Thema Energie herangehen sollten, zumal die globalen politischen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen weiterhin durch den Wettbewerb der Großmächte und den nach wie vor ungewissen Ausgang des Russland-Ukraine-Konflikts geprägt werden.

Experte

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Thomas Mucha

Geopolitical Strategist